mobiles Wissen – Interview

11 Minuten Christian von Allmen, Marketing

Im Interview mit einer Pflegeexpertin APN

Claudia, wie sieht dein beruflicher Werdegang aus?

Ich habe mit 16 Jahren meine Ausbildung zur FaGe in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich begonnen und mit 18 beendet. Danach habe ich den Bachelor in Pflege gemacht und unter anderem ein Praktikum bei der Spitex (in Wollishofen) absolviert. Die Personen zu Hause in ihren vier Wänden betreuen und pflegen zu können, hat mich seit jeher fasziniert und ich erlebte es als willkommene Herausforderung, dafür zu sorgen, dass sie so lange wie möglich (wenn gewünscht) auch zu Hause bleiben können. Ich hatte als Berufsbildnerin, Planungskoordinatorin und Fachverantwortliche Pflege gearbeitet, bis ich mich dann entschloss, noch das Masterstudium zur Pflegeexpertin APN anzuhängen, welches ich 2016 abschloss. Nach meiner etwa einjährigen Weltreise hat es mich wieder zurück in die Spitex gezogen, wo ich als Pflegeexpertin APN (Advanced Practice Nurse) in der APN-Praxis Friesenberg im Projekt CASE (Coordinated APN Support for the Elderly) arbeite. Im April starte ich mit einem Nachdiplomstudium an der Uni Basel, welches mir vertiefte Kenntnisse im Bereich körperliche Untersuchungen und der Behandlung von Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen geben wird.

Weshalb interessiert dich der Bereich Demenz so sehr? Wie wurdest du für das Thema Demenz sensibilisiert?

In meiner langjährigen Spitex-Tätigkeit bin ich immer wieder auf Menschen mit Demenz und deren Angehörige gestossen. Oft habe ich eine Überforderung von Angehörigen miterlebt und eine grosse Bedarfslücke in der Beratung des informellen Helfernetzes erkannt. Ich hatte bereits im Rahmen einer meiner Mastermodularbeiten einen Projektplan für die Beratung von Angehörigen kreiert und habe dieses Angebot nach dem Master durchgeführt und evaluiert. Und gerade bei der Evaluation hat sich herauskristallisiert, dass die Beratung überaus positiv von den Angehörigen aufgenommen worden ist. Angehörige von Kunden und Kundinnen mit Demenz waren teilweise vorher mit der Situation stark überfordert und verschlossen sich, weil ihnen alles als zu viel erschien. Je früher sich Angehörige beraten lassen, desto weniger überfordert sind sie im Nachhinein.

Wie verläuft die Zusammenarbeit mit anderen zuweisenden Stellen?

Wir arbeiten beispielsweise intensiv mit der in der Stadt Zürich ansässigen gerontologischen Beratungsstelle SiL (Sozialmedizinische individuelle Lösungen) zusammen, die spezialisiert ist auf Menschen mit Demenz. Jeder kann sich bei Bedarf dort melden und abklären lassen, worin die nächsten sinnvollen Schritte für die Behandlung bestehen. Wenn in einem Fall beispielsweise hohe fachspezifische und kommunikative Fähigkeiten sowie Kontinuität in der Pflege gefragt sind, wendet sich die SiL oft an uns. Dabei handelt es sich vorwiegend um Kundensituationen, in denen viel Fingerspitzengefühl gefragt und ein sehr sorgfältiger Einstieg notwendig ist, weil die Kunden sonst abweisend reagieren und die Spitex ablehnen. Ein weiterer wichtiger Zuweiser für uns ist der Gesundheitsdienst «Fachdienst für präventive Beratung» der Stadt Zürich, der sensibilisiert ist auf die Gefahr der Überforderung von Angehörigen Demenzerkrankter. Oft werden uns (APN-Praxis Friesenberg) auch über die Zentren Kunden zugewiesen. Froh wären wir zudem, wenn sich auch vermehrt Hausärzte im Bedarfsfall bei uns melden würden. Aber ich vermute, dass viele Hausärzte bisher nicht über unsere spezielle Dienstleistung informiert sind, weshalb in näherer Zukunft unser Ziel sicherlich darin besteht, sie auf unsere Tätigkeiten in diesem Bereich aufmerksam zu machen und dadurch eine breitere Zusammenarbeit zu intensivieren.

Wie gehen dabei die klassischen Zuweisungen von statten?

Die meisten Anmeldungen kommen wie erwähnt über die SiL, wobei viele Betroffene ihre gegenwärtige Lebenssituation krankheitsbedingt tendenziell überschätzen, sich ihre Verhältnisse vor Ort oft als prekär erweisen und es um ihre körperliche Verfassung nicht zum Besten steht. Es sind die Kundensituationen, in denen es sich als schwierig erweist, einen Zugang zu ihnen zu finden und zugleich aufzupassen, dass sie nicht das Gefühl hegen, übergangen zu werden. Man muss sich den Kundinnen und Kunden mit kleinen Schritten annähern, damit sie sich wohl fühlen und später mehr Unterstützung zulassen können. Dafür müssen teilweise auch anfangs die eigenen Spitex-Ansprüche bezüglich der optimalen Pflege zurückgeschraubt werden, bis das Vertrauen aufgebaut ist und das Angebot kontinuierlich auf die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden angepasst werden kann.


 

Erinnerst du dich an eine spezielle Patientengeschichte, die dich bewegt hat?

Ja, durchaus. Es gab da unter anderem einen Fall, in welchem sich die Ehefrau eines an Demenz erkrankten Herrn, der im Vorfeld lediglich die Körperpflege-Leistungen der Spitex in Anspruch genommen hatte, bei der Pflege ihres Gatten völlig verausgabte und auch selbst vernachlässigte. Sie war derart gestresst, dass selbst Hilfeangebote für sie als zu aufwändig aufgefasst wurden, sodass sie keine Hilfe von aussen akzeptieren und die Einsätze der Spitex gar noch reduzieren wollte. Die damals zuständige Pflegefachperson meldete dies bei mir und ich habe dann einen normalen Pflegeeinsatz übernommen, um die Situation selbst vor Ort einschätzen zu können und einen ersten Zugang zum Ehepaar aufzubauen. Ich habe auch mit den Kindern des Ehepaars Kontakt aufgenommen und wichtige Informationen erhalten, wie auch deren Bedürfnisse und Bemühungen, ihren Eltern zu helfen, mitbekommen. Bei meinem Einsatz traf ich die Ehefrau in einem körperlich ausgemergelten Zustand und mit depressiven Tendenzen in ihrem Verhalten an. So liess sie beispielsweise ihre eigenen Schmerzen nicht behandeln, hat sie ignoriert und hat sicherlich nicht mehr ausreichend gegessen und an Gewicht verloren. Ich sprach sie dann in aller Ruhe auf die gesamte Problematik an und sie stimmte zumindest zu, dass die Anzahl der Einsätze nicht reduziert wird. Da ich darauf weiterhin regelmässig bei ihr und ihrem Mann vorbeiging und mir Zeit für Gespräche nahm, vermochte ich ihr Vertrauen zu gewinnen und wir konnten die Einsätze der Spitex erhöhen. Nach einigen Wochen erlaubte sie mir, mich mit ihrer Hausärztin in Verbindung zu setzen und sie ebenfalls als Kundin aufzunehmen, um die Schmerz- und Depressionsproblematik anzugehen, was aus meiner Sicht definitiv der Schritt in die richtige Richtung war. Während einiger Monate kamen wir dann täglich beim Ehepaar vorbei, die Ehefrau meldete sich auch von sich aus bei mir mit Problemen und es ging aufwärts, bis die Frau tragischerweise plötzlich verstarb und ihr Gatte daraufhin in einem Heim unterkommen musste, da er sich daran gewöhnt hatte, stets jemanden um sich zu haben. Aus meiner Sicht besteht die tragische Komponente dieser Geschichte vor allem darin, dass sich die Frau während Jahren so sehr aufgeopfert und von der Aussenwelt verschlossen hat, um ihren Gatten zu pflegen, obwohl wir dies ohne weiteres hätten übernehmen und ihr einen angenehmen und entspannenden Lebensabend hätten bieten können.


 

Wie werden Angehörige einbezogen?

In erster Linie als Informationsquelle und allgemeine Entscheidungshilfe, je nach Absprache können Angehörige auch nach Interesse, Zeit und Wille sich einzubringen, in der Pflege, im Haushalt oder für die Unterstützung in administrativen Aufgaben behilflich sein. Wichtig dabei ist, dass sie sich nicht übernehmen mit all diesen Aufgaben. Viele Kundensind jedoch alleinstehend, was den gesamten Prozess schwieriger gestaltet, da Angehörige oft wissen, worin der mutmassliche Wille des Klienten besteht und welche Aspekte besonders berücksichtigt werden sollten. Zudem gibt es auch Angehörige, die die Demenzerkrankten lange Zeit selbständig pflegen können und wollen.

Würdest du sagen, dass aufgrund eurer Hilfe den Kunden weniger Spital- oder Heimeintritte bevorstehen?

Jeder Fall verfügt natürlich über eine individuelle Komponente, man kann aber den Prozess sicherlich verzögern, sodass die Kundenmöglichst lang in ihren vertrauten vier Wänden wohnhaft bleiben können. Die Einstellung von den Angehörigen oder den Hausärzten spielt dabei aber auch eine zentrale Rolle, wie lange ein Klient oder eine Klientin zuhause bleiben kann. Nicht zu unterschätzen sind allerdings auch ökonomische Faktoren: Wenn zum Beispiel jemand mehr Haushaltsleistungen benötigt, ist dies in keiner Grundversicherung abgedeckt und die Kosten müssen von den Kunden und Kundinnen selbst oder ihren Angehörigen übernommen werden. Und wenn da die nötigen finanziellen Mittel fehlen, ist ein Heimeintritt beinahe unumgänglich. Ein Spitaleintritt kann vor allem dann vorgebeugt werden, wenn delirante Zustände vorgebeugt, erkannt und rechtzeitig behandelt oder auch Fehlmedikationen, Lebensmittelvergiftungen, Mangelernährungszustände verhindert werden.

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